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Matthias Flügge
SKULPTURENPROJEKT, PANKOW-KIRCHE, BERLIN 2004
Im Sommer 2004 steht auf dem Anger vor der Kirche in Berlin-Pankow eine Skulptur. Gegen die anbrandende Straße wirkt sie wie ein Portikus, der vor den Kirchenbau gesetzt wurde. Von diesem her gesehen führt ein langer Steg, sich allmählich verbreiternd, auf den zentralen Körper der Skulptur zu, wie wenn das Auge Anlauf nehmen müsste, um ihn erfassen zu können. Seitlich bietet sich dem Blick eine fast schon elegante Bewegungsform des gebauten Raumes, den die Skulptur beschreibt. Dieser Körper, aus hunderten Balken, Latten und Leisten zusammengenagelt, könnte ein Haus sein oder das Gerüst eines Hauses oder die Rüstung, die um das Gerüst des Hauses gebaut wurde, um einen vagen Hinweis zu geben auf etwas, das entstehen wird. Aber der Anschein verrät nichts darüber, ob es entsteht, wir sind nur gern bereit, schon deshalb etwas Entstehendes zu sehen, weil wir uns von Verfallendem umgeben wähnen. Egal: Das Haus, sei es nun im Auf- oder im Abbau, behaust nichts und niemanden. Nichts wäre verfehlter, als die Skulptur im Sinne sozialer Zeichengebung zu lesen oder gar als Überlebensmodell durch eine Rückkehr zur Natur.
Denn Matthäus Thoma baut mit einfachen Materialien, rohen Hölzern, Fundstücken und Pappen aus Supermarkt-Containern hochkomplexe Modelle von Raum-Zeit-Kunst-Beziehungen, die vertrauten Umgang mit den ästhetischen Diskursen der Gegenwart pflegen.
Seine Arbeit ist als ein durchdachtes System von Erfahrungen zu verstehen. Den großformatigen Skulpturen gehen kleinere voraus und diesen wiederum die Zeichnungen. Es sind keine Studien, die einer „gültigen“ Ausführung dienen, sondern Einzelfälle, Detailuntersuchungen eines übergreifenden Problems. Man könnte es als Betrachtung raumgebundener Kräfte im Stadium kurzzeitiger Ruhe beschreiben, als eingefrorenen Bewegungsablauf, der das Davor und das Danach mit einbezieht.
Matthäus Thomas quasi-wissenschaftliche und dabei empirische Verfahrensweise der Annäherung an deren Erkenntnis führt zu in sich abgeschlossenen Ergebnissen, der Weg ist das Ziel, das lässt die scheinbar physikalischen oder architektonischen Exerzitien als künstlerische, will heißen autonome Werke kenntlich werden. Es geht auch um den Versuch, die Binnenform und die Aussenform von Skulptur zugleich erlebbar zu machen und architektonische wie kinetische Momente bildhauerischer Praxis nicht nur zu untersuchen, sondern als deren eigentliche Substanz darzustellen. Die „armen“ Materialien lenken den Blick von sich selbst weg und fokussieren ihn auf die Aufgabe, sie „sprechen an“, aber Schönheit ist nicht ihr bestimmender Inhalt, jedoch auch nicht die konstruktive Logik ihres Aufbaus. Thoma bewegt sich auf den Zwischenfeldern von Funktionalität und Zweckfreiheit, indem er mit beiden Polen des künstlerischen Tuns experimentiert und sie als unerreichbare Zustände fortwährend zitiert, um sie zugleich zu dekonstruieren. Darin ruht zugleich ein narratives Moment: die Erzählung über das Werden der Skulptur aus dem Geist des Architektonischen.
Von jemandem, der nicht begreift oder nicht begreifen will, sagt man, er sei „verbrettert“. Verbrettern bedeutet, die Wahrnehmung die Voraussetzung jedes Begreifens, jeder Begrifflichkeit zu verunmöglichen. Wenn Matthäus Thoma seine Skulpturen im Wortsinn verbrettert, so geschieht das genaue Gegenteil: ihre Funktion, ihre Konstruktion, ihr spielerisches Gemachtsein werden deutlich und zum eigentlichen Gegenstand unseres Wahrnehmens.
Wir erkennen, dass das Stillstellen einer Bewegung, das Anhalten einer kinetischen Energie dieselbe in der Zeit aufhebt. Eine Einsicht, die schon die Futuristen hatten allerdings unter dem Vorzeichen vitalistischer Wissenschafts- und Zukunftsgläubigkeit. Die liegen Matthäus Thoma fern, seine Verzeitlichung geschieht auf keiner avantgardistisch gerichteten Achse sondern in größeren Radien kunsthistorischer Referenzen. Ihre Voraussetzungen liegen in den Architekturmodellen der Renaissance ebenso wie in den ausufernden Energien hochbarocker Skulpturen, sie weisen Bezüge zur organischen Architektur am Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso auf wie zum Dekonstruktivismus an dessen Ende. Schwitters’ Assemblagen sind nahe und Panamarenkos poetische Übersetzungen konstruktiver Energien in Metaphern schwerelosen Fliegens.
Aber doch schafft Thoma etwas Neues, das mich sofort faszinierte, als ich vor wenigen Jahren die ersten Arbeiten von ihm sah: Es ist die intelligente und zugleich sinnlich ergreifende Reflexion des bildhauerischen Metiers im Stadium seiner vollkommenen Ortlosigkeit. Denn die große Skulptur auf dem Pankower Anger ist nichts anderes als eine provokante Demonstration eben dieser Ortlosigkeit des künstlerisch geformten Raumes. Die Beuyssche Ausdehnung des Skulpturbegriffs ins Soziale war ja nichts anderes als der Versuch, ihm einen neuen Ort zu bestimmen. Auf Dauer war er auch hier nicht zu finden. Indem Matthäus Thoma den impliziten Raum seiner Skulpturen als deren genuinen
Ort definiert und materiell beschreibt, löst er sie aus allen überkommenen Bindungen, die in ihnen aufgehoben sind. Sie erscheinen wie ein Nachspiel auf eine wirklich große Geschichte.
In solcher Radikalität der Anschauung können die physischen Energien als Bilder für die der Psyche wahrgenommen werden. Das hybride Anschwellen von Matthäus Thomas Skulpturen wäre dann eine Metapher für deren „Rückbau“ zu sich selbst.
Ein Gedicht des schwedischen Lyrikers Tomas Tranströmer brachte mich auf diesen vielleicht abwegigen Gedanken. Es heißt Postludium:
Ich schleife wie ein Draggen über den Boden der Welt.
Hängen bleibt alles, was ich nicht brauche.
Müde Indignation, glühende Resignation.
Die Büttel holen Steine, Gott schreibt in den Sand.
Stille Zimmer.
Die Möbel stehen flugbereit im Mondschein.
Sachte gehe ich mich selbst hinein
durch einen Wald von leeren Rüstungen.
Katrin Bettina Müller
SCHNELLER WERDEN
Schließe die Augen und erinnere dich. Wie das war, als sich die Achterbahn in die Kurve legte und aus großer Höhe herabstürzte. Jetzt zeichne die Bewegung nach, wie dein Körper nach rechts und links flog, erstarrte und innerlich die Bremsen ziehen wollte. Mit solchen zittrigen Spuren, die scheinbar tief aus der Erfahrung der Verunsicherung und des Verlustes jeder Stabilität schöpfen, nähert sich Matthäus Thoma dem Thema seiner Skulpturen auf dem Papier. Die Zeichnungen und die Konstruktionen aus Holz, die er in der auf Bildhauerei spezialisierten Galerie Linneborn ausstellt, erfassen Bewegung und treiben mit unterschiedlichen Mitteln auf den Punkt der Gefährdung zu. Ein dünnes und splittriges Hölzchen weniger, das denkt man oft bei Thomas gewagten Bauten, und das Ganze stürzt wie beim Mikado in sich zusammen. Seine Skulpturen gleichen kleinen Modellen für eine Schau- und Vergnügungsarchitektur: Aussichtstürme, Häuser, die auf Stelzen gehen oder auf Schienen gleiten, Achterbahnen, Karusselle, Flugzeuge mit gedrungenen Körpern und Stummelflügeln, Raumschiffe.
Alles was sich dreht, was schnell ist, Abenteuer verspricht und Gefahr, nimmt wie in einer Art verlängerter Jungensfantasie noch einmal Form an. Aber nicht als technische Bauanleitung, sauber gebastelt und auf Funktionalität erpicht, sondern als möglichst chaotische Form, nahe dem Strudel, der die Trümmer des zerbrochenen Schiffes in seinen Kreisel zieht. Das gibt den aus Holzresten unterschiedlicher Stärke grob gefügten Skulpturen eine trotzige Spannung – sich anzulegen mit Kräften, die möglicherweise größer sind als sie.
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