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PRESSE

Eine Einführung von Prof. Dr. Werner Schnell

„TANIE KRAPÜLE“
Ausstellung Marburger Kunstverein 25.01. – 06.03.2008

Matthäus Thoma arbeitet mit Holz - Matthäus Thoma arbeitet mit dem Volumen. Denken Sie aber nun nicht, ich wollte ihn in die Reihe der Bildhauer einordnen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Volumen des Baumstamms bei der Formfindung ihrer Skulpturen soweit wie eben möglich intakt hielten, nicht zuletzt ermutigt durch die Wahrnehmung der Arbeiten außereuropäischer Bildschnitzer. Man könnte hier die Namen Gauguins, Picassos, Schmidt-Rottluffs oder Brancusis aufrufen, für die spätere Zeit die Moores oder Wachters bis zu denen Baselitz und Wortelkamps.

Ihre Werke zeichnen sich nicht nur durch ihre physische Präsenz, sondern oft auch durch eine besondere Kultivierung ihrer Materialität aus. Doch bereits Picasso, Laurens und Archipenko haben Fundstücke aus Holz auch konstruktiv so zusammengebaut, daß es seine spezifische Stofflichkeit noch sichtbar bewahrte oder unter Farbe verbarg. Dabei verwendeten sie oft auch dünne Holzstreifen und -platten und klebten sie so systematisch auf- und aneinander, daß die darzustellenden Volumen wie Köpfe oder Flaschen mehr durch von kantigen Hölzern begrenzte Leerformen definiert wurden als durch tatsächliche Materialmasse. Diese Konstruktionen können nicht mehr spontan als das genommen werden, was sie darstellen. Die einzelnen Elemente behalten ihre Eigenwertigkeit, auch wenn sie von einer Gestalteinheit, die z. B. als Zeichen für Kopf gelten kann, überformt oder doch, wie bei Schwitters Arbeiten, Teil einer in sich geschlossenen, also harmonisch empfundenen Komposition werden.

Damit waren jahrhundertelang geltende Grundprinzipien der Plastik aufgegeben, wurde sie doch immer, nicht zuletzt wegen ihrer Abbildungsfunktion, als raumverdrängender Körper gedacht, auch wenn im Barock bereits mit Negativvolumen gearbeitet wurde, die ihre Legitimation in schalenartig geformten Draperien hatten. Das konstruktive Umgehen mit den Holzscheiben, die konkave Formen bilden sollen, ließ nur noch eine sehr allgemeine Abbildungsfunktion zu, da ein organoides Volumen nicht mehr nachgebildet, sondern nur bezeichnet werden konnte. Der Montagecharakter war unübersehbar. Ihn konnten die Bildhauer in der Folgezeit, als ihnen die Abbildungsverpflichtung immer weniger bindend wurde, radikalisieren, und die Holzteile nicht einmal mehr fest montieren, sondern lose aufstapeln wie z. B. Carl Andre oder Hansjerg Maier-Aichen in den sechziger, Siegfried Cremer in den siebziger oder Peter Martens in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Hier also darf man Matthäus Thomas bildhauerischen Ansatz einordnen, seitdem er 1999 die Leinwand von seinen meistens wandbezogenen

Holzkonstruktionen nahm, deren eigene plastische Qualität erkennend. Er befreite sie aus ihrer Mittlerfunktion und überführte sie in Konstruktionen mit autonomer plastischer Kraft. Sie nahmen in den letzten Jahren zunehmend ganze Räume in Beschlag, wie Sie es selbst hier und jetzt an der für diese Ausstellung konzipierten und realisierten Skulptur >Tanie Krapüle< erleben können. Doch scheint es mir sinnvoll zu sein, zunächst einen Blick auf die kleineren Skulpturen zu werfen, an denen man das Prinzip von Thomas Holzkonstruktionen vielleicht etwas einfacher bewußt machen kann, da sie sich den Betrachtern in Aufsicht in ihrer Ganzheit darbieten und zudem als autonome Skulpturen angesprochen werden müssen, die in sich ihr Ziel finden und ausnahmslos >ohne Titel< bezeichnet sind, somit jede Abbildungs-, selbst Symbolfunktion ab- und auf sich selbst zurück verweise

n.Diesen Montageskulpturen geht eine Vielzahl von Zeichnungen voraus, von denen man nicht leicht sagen kann, ob es sinnvoller ist, sie als Ideenskizze, als Entwurf oder als autonome Zeichnung zu kategorisieren. Sie machen mit ihren vielen Überlagerungen in jedem Fall die schwierige Arbeit der Formfindung nachvollziehbar, wie der Künstler aus einer zunächst intuitiv gesetzten Linienfülle zu einer distinkten Form findet, die er schließlich energisch markiert, ohne die Linienbündel, die sie generierten, zu löschen. So machen diese Blätter - und ich möchte die Collagen dazurechnen, auch wenn ich ihnen damit nicht ganz gerecht werde - den Prozesscharakter anschaulich.

Der ist aber auch seinen kleineren Skulpturen dann noch eigen, wenn sie Grundlage raumfüllender Arbeiten sind. Trotzdem darf man sie nicht als Modelle im klassischen Sinn bezeichnen, da die Arbeit im und mit dem konkreten architektonisch vorgeprägten Raum den Künstler zu Modifikationen mit völlig anderen Wirkungen führt. Alle diese Arbeiten werden aus einfachen Nadelholzlatten und zuweilen auch -brettern unterschiedlicher Dicke und Farbe gebildet. Die vegetabil bedingten, auf den ersten Blick regellos erscheinenden Wuchseigenarten kontrastieren mit der Regelstrenge der Sägeschnitte, denen das Holz unterworfen wurde. Thoma montiert die Dachlatten aneinander- und nebeneinander so, daß sie sich für unsere Augen zu mehr oder weniger geschlossene Formen zusammenschließen, die man nur vage als Trapezoide, Pyramiden- oder Kegelstümpfe oder lediglich als Flächen bezeichnen kann.

So beschreibend erfasse ich von Thomas Skulpturen ein wesentliches Moment nicht, das nicht nur den Schreinern unter Ihnen sofort auffällt. Klassische Holzverbindungen wie das Dübeln, die Rundzapfenverbindung, die Verbindungen mittels Zapfen und Keil oder Schlitz und Zapfen sucht man ebenso vergeblich wie Nuten, Graten, Falzen oder gar Zinken. Vielmehr verbindet Matthäus Thoma die Leisten durch Überplatten; aber keineswegs so, daß bei End- und Kreuzverbindungen die verbundenen Teile bündig ineinander liegen. Vielmehr verschraubt er sie so, daß sie erkennbar auf- oder untereinander liegen und keineswegs ihre Selbständigkeit verlieren. Das geht soweit, daß Thoma für seine Skulpturen nötige längere Holzstücke aus kleineren in dieser unprofessionellen Form aneinanderschraubt. Dafür lässt sich sehr gut der französische Begriff 'bricolage' verwenden, der bei uns vor allem durch Claude Levi-Strauss bekannt wurde, der den Begriff 1962 in La Pensée sauvage als Metapher für die Sozialwissenschaften einführte.

Aber ganz handfest verstanden sind für 'bricolage' in etwa der deutsche Begriff 'Bastelei' oder der inzwischen bekannter gewordene englische do-it-your-self Synonyme. Er meint also einen laienhaften Umgang mit Material, das zur Hand ist und aus ganz anderen Funktionsbereichen stammen kann. Ihm wächst in einem kreativen Prozeß durch die Anwendung ungewohnter, weil unprofessioneller Verfahren neue Wirkungskraft zu. Will der Heimwerker die Perfektion des professionellen Handwerkers erreichen, so muß er, sie zu verfehlen, als Niederlage begreifen, vor der ihn die Baumärkte zu retten versprechen.Matthäus Thoma aber intendiert diese dem Schreiner dilettantisch anmutende Art, Holzteile zu verbinden, schafft damit Wirkungsqualitäten.

Die Skulpturen, die trotzdem sehr stabil sind, bekommen dadurch etwas von Vorläufigkeit, plastisch gesehen, wird ihnen auch viel vom Lastenden genommen. Besonders wirksam wird das dann, wenn Thoma die Gesamtform durch relativ eng nebeneinander liegende Latten schließt oder diese auf Stelzen stellt. Deshalb vermitteln selbst große Gesamtformen unserem Auge noch etwas von Leichtigkeit. Das bewußt Dilettierende zeigt sich auch an den Bogenformen, die Thoma durch Addition mehrerer gerader Leistenstücke bildet, so daß ihnen jede sich selbst genügende Eleganz abgeht. Nur mit Mühe scheinen sie jeweils ihr Ziel zu erreichen. Ich verwende diese Metapher, weil sie diese Länge nur durch Stückelung gewinnen. Thoma nimmt sie nicht als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern geht, ungeachtet aller Planung, ohne die seine Konstruktionen sich nie halten würden, unökonomisch vor.

Diese sich aus dem skulpturalen Verband isolierenden Formelemente scheinen sich nur zögerlich ihren Weg in den Raum zu suchen. Das 'Wandern' dieser Elemente in und durch den Raum suggeriert also eine Zeitdimension. So erreichte die bodenparallele, nun aus massiven Brettern gebildete Horizontalform 2004 in der Arbeit >Laufendes Haus< vor der Pankower Dorfkirche die ungeheure Länge von etwa 14 Metern, die aus der 4,20 x 6,00 Metern hausartigen zentrierten Kernkonstruktion "herausliefen", als habe sie eine Spur aus den Brettern hinterlassen, die sich in ihr vergitterten. Wegen dieses sichtbar Provisorischen scheint mir der sich zumindest bei den kleineren Skulpturen anbietende Vergleich mit Architekturmodellen ungeachtet ihrer Stabilität falsch, weil diese höchste Zweckmäßigkeit und Materialökonomie aufweisen müssen, während Thoma Skulpturen baut, denen die funktionsnotwenige Rationalität fehlt und die anderen, vom Künstler gesetzten Regeln gehorchen.

Wenn man versucht, eine Skulptur von ihrer Produktionsweise als Vorbedingung aller Wirkungsästhetik zu begreifen, erweist sich der Vergleich noch weniger passend, da Thoma keine maßstabgenauen Modelle baut, die auch Handwerker dann in das gewünschte Format umsetzen könnten. Auch wenn der Bildhauer sich an die Grundstruktur halten muß, die er in Kenntnis des Raumes und mit Hilfe von Grundrissen ganz spezifisch entwickelt hat, verändert er doch in aktueller Reaktion auf den Umgang mit dem Raum und diversen Umständen die Skulptur, die man zu Recht Installation nennen kann. Thoma stellt seine Holzkonstruktionen als Antwort, vielleicht darf man jetzt sofort sagen, als Antipoden in Räume, die nichts von der gewollten Fragilität und Vorläufigkeit zeigen, die seine Skulpturen mitteilen Als Beispiele dafür seien hier nur zwei Arbeiten genannt: >Spiegelung Einbruch< tat, als er sie sehr genau auf die filigran von Stahlträgern unterteilten Glaswände des von Jürgen Adam geplanten und 2004 fertig gestellten E.ON-Gebäudes in München hin konzipierte und aufbaute.

Thoma setzte für die einzelnen, auf Distanz gebrachten Teile, die innen wie draußen platziert waren, zu größeren Flächenformen zusammenmontierte Holzplanken ein, von denen sich die meisten schräg in den Raum schoben und sich viel mehr als zuvor den Orthogonalen entzogen. Ähnlich gestaltete er einige Monate später auch >Ancestor< in Stralsund, im Seitenschiff der St. Jacobi-Kirche, deren Bauzeit vom beginnenden 14. bis zum Ende des 15. Jahrhundert reichte. Nach mehreren Teilzerstörungen und Restaurierungen ist die Kirche heute säkularisiert. Thoma mußte keine Rücksicht nehmen auf den religiösen Kult, sondern vor allem in formaler Hinsicht eine skulpturale Antwort auf die spätmittelalterliche Architektur suchen, die geweißte Ziegelwände mit dreiteiligen Dreipassfenstern ohne Buntglas hat. Damit war wegen der relativ hohen Sohlbänke der Fenster ein von oben auf die Skulptur fallendes, weißes Licht gegeben, dessen Wirkung bei den vielteiligen Skulpturenaufbauten Thomas generell eine wichtige Rolle spielt. Denn es fällt nicht nur auf die Skulpturen, deren Holzbänder es reflektieren, sondern es durchdringt sie auch mehr oder weniger je nach Montierungsart und verwendetem Material.

Diese Produktionsform, die keineswegs auf die Eigenschönheit des Material Holz setzt, wenngleich es oft schon ein gewisse Geschichte mit dessen Markierungen aufweist, wenn Thoma es verwendet, ist aber grundlegend für die Wirkung der Skulpturen. Sie fügen sich deshalb nie zur perfekten Form. So bleiben die Flächen, die Thoma durch sich addierende Leisten bildet, bis zu einem gewissen Grade transparent. Zugleich verändert sich der Eindruck der Skulptur ständig, nicht nur abhängig von der Augenhöhe der jeweiligen Betrachter, sondern auch von ihrem Standort. Es ist unmöglich, die Gestalt vorherzusehen, die man sehen wird, wenn man sich jeweils anders zu den Konstruktionen positioniert. Formen scheinen sich zu schließen und zu öffnen, schwer lastend, dann wieder leicht zu werden. Zugleich scheinen diese Formen permanent gefährdet, keine strahlt Ewigkeit und Zeitlosigkeit einer stereometrischen Form aus.

Die Unerreichbarkeit von deren Perfektion zeigen Thomas Skulpturen. Immer scheint die gefundene Form vorläufig zu sein. Trotzdem brauchen Sie keine Angst zu haben, sie stürzten ein. Auch wenn hin und wieder angesichts von Thomas Skulpturen das Destruktive als Wirkungskategorie beschworen wurde, kann ich nur die Wahl einer kleineren Ordnung erkennen, von Chaos kann keine Rede sein, genauso wenig wie bei seinen linienüberbordenden Zeichnungen. Diese wie auch die Skulpturen zeigen, wie schwierig es ist, Form zu finden und zu setzen. Wie unsere Augen ständig aufgefordert sind, für uns relevante Formen und Farben als Gestalten zu bilden, damit wir uns im optischen Informationsüberfluß zurecht finden, so läßt uns Thoma Anteil nehmen an seiner Formfindung als einem Distinktion suchenden Prozeß, an dessen Ende seine aus einfachem, leicht brechbarem, also verletzbarem Holz montierten Skulpturen stehen. Diese behaupten in keinem Detail, auf Dauer angelegt zu sein, auch wenn Material und Konstruktion so flüchtig nun auch wieder nicht sind.

Tatsächlich muß der Bildhauer aber seine großen Arbeiten häufig wieder demontieren, es bleiben Fotos und Latten. Obwohl Thomas Skulpturen groß sind, Menschen gelegentlich sogar in sich einlassen können, wie Sie hier an >Tanie Krapüle< selbst erleben, widersprechen sie in ihrer so oder so vom Künstler realisierten Gestalt allen monumentalen Ansprüchen, die heutige, durchrationalisierte funktionsgebundener Architektur allein durch vorher nie ereichte Höhen von 509 Meter wie der 'Taipei 101' anmeldet, dessen Turmkonstruktion schon bald vom auf 810 Meter geplanten Burj Dubai überholt werden wird. Solche Höhen brauchen massive Bodenverankerung. Meistens haben aber die Skulpturen Thomas geringen Bodenkontakt, sie scheinen trotz ihrer Massigkeit, wenn er sie denn aus Gittern entwickelt hat, die Schwerkraft eher zu negieren, denn zu betonen, wie es die schon aufgerufenen, aus dem Stamm entwickelten Hölzer der frühen Moderne tun.

Matthäus Thomas Skulpturen mit ihren faszinierenden Formabläufen sind in sich gültige Skulpturen, innerhalb der Kunst Kontrastformen zu den anonymen perfekten Formen der Minimal Art eines Don Judd, aber darüber hinaus 'Gegenarchitekturen' zu unserer nach ökonomischen Kriterien durchplanten Welt, selbst wenn Thoma nicht immer mit ihnen ganze Räume für den Betrachter versperrt wie 2007 durch die Installation >Dunkenreizen< in der Galerie Weißer Elefant und durch >Brücke< in der Projektgalerie Hofmann von Sell in Berlin. Und gerade in ihrer architektonischen Disfunktionalität sind sie autonome Skulpturen, die in ihrem wenig prätentiösen Charakter ihre Zeitgenossenschaft behaupten, ihre Modernität für unsere Gegenwart im Jahr 2008.


© 2009 matthäus thoma, berlin