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PRESSE

Rolf Wicker

Matthäus Thoma

KUNSTVEREIN RASTATT, MARSTALL

Lieber Matthäus, sehr geehrte Damen und Herren,
es hat schon etwas Überredungskunst gebraucht, dass ich mich heute an dieser Einführung versuche, denn als Künstler über einen Bildhauerkollegen zu sprechen, ist ja nicht mein eigentliches Metier und bin ich auch nicht gewohnt. Aber da ich selbst vor Jahren die Ehre hatte, hier auszustellen, komme ich natürlich gerne nach Rastatt. Nicht zuletzt treibt mich die eigene Neugier seither immer wieder in den Marstall, einfach um zu sehen, wie andere Kollegen mit diesem großen Raum und der damit verbundenen Herausforderung umgehen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie aufregend es für mich war, hier auszustellen und eigentlich stehe ich lieber hier entspannt - am Rednerpult als in der Situation zu stecken, in der sich mein Kollege Matthäus Thoma heute befindet. Er öffnet Ihnen heute die Tore, gestattet Ihnen einen Blick auf das, was ihn - ganz persönlich - interessiert, gewährt Einblick in seine Arbeit und muss dabei auf Lob und Tadel, Begeisterung und Unverständnis gleichermaßen vorbereitet sein.

Mit einer so großen Ausstellung und gerade heute, bei der Eröffnung, öffnet der Künstler ja sehr viel Privates von sich, und lässt Sie als Besucher zu sich herein. Vielleicht ist das vergleichbar damit, wenn Sie zuhause die Wohnungstür öffnen würden, eine große Einladung aussprechen würden und nicht wissen, wer und wie viele Besucher kommen werden und vor allem: was die Besucher über Ihre Wohnung oder über Ihren Garten denken und sagen werden. Heute ist das übrigens kein gewöhnlicher Garten, sondern einer auf einem fremden Planeten. Vielleicht ging es Ihnen ebenso, dass Sie sich - im Bewusstsein des Ausstellungstitels Pflanzen auf fremden Planeten ein bisschen vorkamen wie Alice im Wunderland und staunend versuchten, irgendwelche Pflanzenformen in den riesigen Dimensionen zu erkennen. Wenn man sich diese Gebilde näher betrachtet und die großen Formen hinter dem Chaos an Brettern und Latten klarer werden, dann kommen einem die Formen der Pflanzen gar nicht mehr so fremd vor. Unabhängig davon, in welcher Lage die einzelnen Teile liegen, stehen, kippen, rutschen, alle diese Gebilde lassen sich auf eine einzige Grundform reduzieren, die in unglaublicher Vielfalt variiert wurde.

Sucht man hinter der Vielfalt der Erscheinungen nach der Grundidee der Form, dann stellt sich diese Urpflanze plötzlich wie eine stark reduzierte Blattform dar. Matthäus Thoma tut uns aber nicht den Gefallen und präsentiert uns diese Form als eine einzige, ideale skulpturale Form. Vielmehr fordert er uns heraus, hinter den Varianten uns selbst ein Bild davon zu entwickeln. Platons Ideenlehre lässt grüßen. Dazu kommt erschwerend, dass sich der im Titel angekündigte Pflanzendschungel gar nicht eindeutig als botanisches Grundmotiv identifizieren lässt. Es könnten genauso gut architektonische Formen sein, oder Boote, Pantoffeln, Knieschoner, Schalen, Unterstände oder anderes. Die versprochenen Pflanzen wachsen auch nicht aus dem Boden hervor sondern liegen ineinander und aufeinander, als hätte sie Matthäus Thoma mit einem Messer oder einer Sense frisch abgeschnitten. Die abgeschnittenen Pflanzen erinnern dabei nicht nur an bekannte Gegenstände aus unserem Alltag sondern auch an Bilder aus der Kunst- und Kulturgeschichte: an Wandnischen aus der Antike bis zur Gegenwart, an Ornament- und Pflanzendarstellungen der frühen Hochkulturen ebenso wie an romanischen Bauschmuck oder überdimensionale Goldschmiededetails (Hinweis Zeichnungen).

Verblüffend ist dabei die Unterschiedlichkeit im Detail der Konstruktion und keine Struktur gleicht dabei der anderen: Regelmäßiges und Chaotisches wechseln sich ab, Gitterkonstruktionen und parallele Lattungen, enge Strukturen und offene Konstruktionen, Rundes und Kantiges - und vieles mehr. Die verschiedenen Richtungen und Stellungen der Einzelelemente zu beobachten, ist einen eigenen Rundgang wert. Angesichts dieser vielen Variationen und Unterscheidungskriterien ist man als Betrachter zunehmend froh und dankbar, dass sich MT auf nur diese eine durchgehende Grundform beschränkt hat. Spätestens jetzt ahnt man, dass man es hier nicht nur mit einem arbeitswütigen visuellen Anarchisten zu tun hat, sondern auch mit einem disziplinierten, intelligenten und äußerst erfahrenen Bildhauer. Einem, der nicht nur als Bildhauer Bilder haut oder schraubt, sondern auch in unserem Inneren parallel dazu viele andere Bilder bewusst zu erwecken vermag und mit einem Künstler, der auf dem formalen Klavier der konstruktiven Möglichkeiten und des materialgerechten Umgangs die ganze handwerkliche Bandbreite spielerisch auslotet und beherrscht.

Wenn uns also die Pflanzenformen plötzlich doch begreifbar werden, dann ist vielleicht der unbekannte Planet eher die Person, die für diese Gebilde verantwortlich zeichnet. Vielleicht sollte der Ausstellungstitel besser heißen: Neue Pflanzen vom unbekannten Planeten . Über den unbekannten Planeten Matthäus Thoma weiß man, dass er seine Installationen bis ins Detail plant. Raummodelle, Skizzen, detaillierte Holzmodelle aus kleinen Latten geben Größe, Konstruktion, Volumen, Struktur und Richtungen vor, jede einzelne Form, jede Anordnung im Raum ist vielfach am Modell überprüft und korrigiert. Die bewusst eingesetzte rotzige Handwerklichkeit verschleiert dabei nur (und auch das ist gewollt), dass MT sehr genau die unterschiedlichen Materialstärken des Holzes mit einbezieht, die verschiedenen Querschnitte und Verbindungen plant und sie dabei immer als skulpturale Qualitäten begreift und einsetzt. Das geht so weit, dass er selbst die Farbigkeit des Holzes, also frisches, angegrautes oder dunkles Holz bewusst und gezielt auswählt und/oder vermischt. Natürlich sind bei ihm in allen seinen Installationen auch die Bezüge zur umgebenden Architektur oder Landschaft genau studiert und seine Arbeit immer auch als Reaktion darauf zu begreifen: In diesem Fall die Nischenformen des Marstalls, der Bezug zur Stahlkonstruktion des Dachstuhls und die Entsprechung zum Holz der Decke.

Zu jedem unbekannten Planeten gehören eigene Gesetzmäßigkeiten, eine eigene Logik, die sich uns erstmal nicht erschließt. Da ich mit dem unbekannten Planeten MT hin und wieder in Kontakt trete, habe ich Ihnen etwas voraus und kann Ihnen deshalb etwas verraten: Es geht auf diesem Planeten gar nicht um Pflanzen, oder um einstürzende Häuser oder um was auch immer. Ich habe schon einmal beobachtet, wie auf diesem Planeten für eine schon fertig gewordene Skulptur in einem zufällig gefundenen russischen Wörterbuch im Nachhinein nach einem wohlklingenden Ausstellungstitel gesucht wurde! Deshalb rate ich Ihnen, die Pflanzen zu vergessen und die hier vorliegenden Gebilde ausschließlich als Formen, als Strukturen, als Volumina, Material und Bewegung im Raum, kurz, als Bildhauerei zu begreifen. Man kommt einem unbekannten Planeten nur näher, wenn man ihn aufmerksam beobachtet, ihn so studiert, wie er ist. Indem man seine Erscheinungen und Phänomene sorgfältig analysiert und sich ruhig auch ganz unwissenschaftlich - auf die emotionale Wirkung einlässt, die seine Formen hervorrufen.

Der Planet Matthäus Thoma ist spannend, weil man an ihm sehr gut das studieren kann, was gute Bildhauerei heute ausmacht, worum es dabei geht und weil man an ihm sehr viel über das ganze skulpturale Universum erfahren kann. Dazu gehört auch, dass die Gattungsgrenzen zur Installation überschritten werden und räumlich nicht nur im Objekt, sondern in architektonischen Dimensionen gedacht wird. Wie alle Pflanzen, so sind auch die Gewächse vom Planeten Matthäus Thoma nicht von ewiger Dauer, sie wachsen und werden wieder zerlegt und gehen manchmal auch wieder ein in den stofflichen Kreislauf, der zu neuen Arbeiten führt. Die Titel und Namen der Erscheinungen sind dabei letztlich so unwichtig, wie Namen, die Astrologen ihren Neuentdeckungen geben. Bei Matthäus Thoma sind sie höchstens der Ausgangspunkt für ein neues Phänomen, eine neue Arbeit. Wenn wir es hier also mit skulpturalen Hochleistungspflanzen (vom unbekannten Planeten Matthäus Thoma) zu tun haben, muss an dieser Stelle auch das dazugehörige Gewächshaus angesprochen werden.

Der Marstall fungiert in diesem Fall ja als eine Art Treibhaus für die Kunst und für die Künstler gleichermaßen. Nicht viele Künstler trauen sich zu, einen derart großen, klaren Raum mit ihrer Idee konsequent zu bepflanzen und zu füllen, und manches an kleinformatiger künstlerischer Produktion würde zwangsläufig hier buchstäblich eingehen. Die Verantwortlichen für den Marstall müssen also jedesmal einen besonders grünen Daumen beweisen, wenn Sie bzw. der Kunstverein der Stadt Rastatt einmal im Jahr einen Vorschlag für die nächste Aussaat im Marstall unterbreiten. Aber auch die Stadt Rastatt kann stolz auf ihr Gewächshaus Marstall sein, das jedes Jahr reiche neue Ernte bringt und wo Wagnis und Experiment (auch Scheitern ab und zu) für die Verantwortlichen so selbstverständlich dazugehören so wie es eben bei jeder Gartenarbeit der Fall ist. Nicht viele Städte haben ein so gut funktionierendes und besonderes Gewächshaus. Das Treibhaus Marstall treibt im Gegenzug nämlich auch die Künstler zu entsprechenden Leistungen an, um diesen wirklich außergewöhnlichen Ausstellungsraum zu bewältigen.

Jedes mal sind es Installationen und Konzepte, die eigens für diesen Ort, für diese Stadt und diesen Raum entwickelt und geschaffen sind und immer sind es viele Hände und Köpfe, die unsichtbar und doch entscheidend zum Gelingen beitragen und oft genug unvorhersehbare Schwierigkeiten meistern und gar ein Scheitern rechtzeitig verhindern. An dieser Stelle muss nicht nur der Stadt Rastatt für die Bereitstellung und den Unterhalt des Gewächshauses, sondern auch dem Kunstverein und ganz besonders den Gärtnern Antje und Jörn Kausch gedankt werden, - ich glaube, ich darf das heute einmal im Namen aller Künstler tun, die bisher von den beiden seit vielen Jahren unermüdlich betreut und unterstützt wurden. Lieber Matthäus, vielen Dank, dass Du uns von Deinem Planeten eine so reiche Ernte mitgebracht hast. Und zum Abschluss - als kleine Erinnerung an heute - möchte ich Dir ein kleines nützliches Geschenk überreichen, damit Du uns allen noch viele schöne und starke Pflanzen von Deinem Planeten abschneiden und zeigen kannst: ein Gärtnermesser. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.



© 2005 matthäus thoma, berlin