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Dr. Stephan Berg
VOM GLÜCK, NICHT STEHEN ZU BLEIBEN
Eine der schönsten und berühmtesten Szenen in Michelangelo Antonionis 1969 entstandenem Kultfilm „Zabriskie Point“, diesem zivilisationskritischen Roadmovie, das unter anderem von dem absurden Plan handelt, exklusive Feriensiedlungen in der Wüste zu bauen, zeigt in endlos gedehnter Zeitlupe die Explosion einer Villa. Es ist eine gewalttätige Szene, die aber vor einem strahlend blauen amerikanischen Himmel
so genussvoll zelebriert wird, dass man in ihr mehr sehen kann als nur eine zeittypische Bildattacke gegen Konsumwahn und Oberflächlichkeit. Die Ornamentalität der Komposition, ihre Lust an den zerberstenden Details, machen die Einstellung darüber hinaus zu einer emphatischen Feier der Dekonstruktion, einem Bekenntnis zu einer unendlich langsamen, aber unaufhörlichen Bewegung, die nicht auf Ordnung, Zusammenhang und konstruktive Klarheit gerichtet ist, sondern auf Auflösung und Disparatheit.
Die Arbeiten Matthäus Thomas funktionieren ganz anders, doch in ihrer zwischen Chaos und Ordnung oszillierenden Erscheinung steckt ebenfalls ganz deutlich ein Moment von Explosion, Dekonstruktion und Auflösung: Ein anarchischer Impuls, der sich gegen statische Verfestigung wehrt, gegen Endgültigkeit opponiert und nur in der potenziell unendlichen Veränderbarkeit sein Glück findet. Thoma ist Bildhauer. Durchaus in einem klassischen Sinn, wenn man sich vor Augen führt, dass Holz nicht nur sein bevorzugtes, sondern sein ausschließliches Medium ist. Zudem merkt man den Arbeiten geradezu körperlich an, wie sehr er den direkten sinnlichen Kontakt zum Material braucht, wie sehr seine Arbeiten aus dem Material, aus dem Prozess heraus entwickelt sind und nicht kühl kalkulierend am konzeptuellen Reißbrett, einer rein analytischen Logik folgend.
Andererseits und das entspricht nun wieder überhaupt nicht dem Klischee des Klassischen ist er in hohem Maße daran interessiert, seine Skulpturen von allen Erwartungen an monolithische Einheitlichkeit, statische Endgültigkeit oder ideale Perfektion restlos zu befreien. Thomas Arbeiten sehen immer ein bißchen aus wie nun, nicht wie „Einstürzende Neubauten“, aber vielleicht wie explodierende Holzhütten oder wie das unvergessene Fertighaus, das Buster Keaton dank falsch nummerierter Kisten so schräg zusammenbaute, dass es aussah, als habe er lange vor Frank O. Gehry und Coop Himmelblau den Dekonstruktivismus erfunden. Es ist nicht von ungefähr, dass sich hier der Vergleich mit der Architektur einschleicht. Tatsächlich legen ihn Thomas Arbeiten, inklusive seiner neuen Arbeit „Einbruch“ für die e.on-Zentrale in München, nahe, indem sie selbst mit ihren Lattengittern, ihren Planken und konstruktiven Elementen ganz unmissverständlich die Verwandtschaft zum Gebauten nahe legen.
Warum tut das jemand, der andererseits doch so klar und deutlich erklärt, allein an bildhauerischen Fragen interessiert zu sein, also daran, wie sich Masse zu Leere, das Innen zum Außen, Statik zu Bewegung und das Material zu sich selbst und dem umgebenden Raum verhält? Ich denke, weil er die statischen Gesetzmäßigkeiten, die Ordnungsparameter der Architektur als Widerlager, als Widerstand braucht, um dagegen seine sich fast selbsttätig fortspinnende, nein, fort-bretternde skulpturale Logik wirklich pointiert zur Wirkung bringen zu können. Der architektonische Aspekt dieser Skulpturen fungiert insofern als Fallhöhe, aus der heraus sie ihre Autonomie als skulpturale Körper formulieren. Noch anders gesagt: Mit ihrem scheinbaren Versprechen, doch irgendwie nach einer nachvollziehbaren Logik (nämlich der der Architektur) zu funktionieren, locken sie den Betrachter hinein in ihren aus Latten und Brettern gezimmerten Strudel, der dann seine ganz eigene labyrinthische Wirklichkeit behauptet.
Wenn man denn aus der Architektur einen einigermaßen angemessenen Vergleich bemühen wollte, dann könnte man nur da fündig werden, wo die Architektur nie Wirklichkeit werden durfte, sondern nur auf und für das Papier entstand: Beispielsweise also bei Giovanni Battista Piranesi (17201778), der in seinem Radierungszyklus der „Carceri“ (1745) die klaustrophobe Vision einer Architektur entwarf, die im selben Maße unbewohnbar wie unentrinnbar erschien. In ihrer phantastischen Logik aus ins Nichts führenden Treppen und undurchdringlicher, auswegsloser Labyrinthik waltet in diesen „Kerkern“ eine Lust am Irrationalen, am Anti-Aufklärerischen, das auch den komplexen, tektonisch bedenklichen Latten-Clustern Matthäus Thomas nicht fremd ist.
Und noch ein Außenseiter könnte einem einfallen: Ferdinand Cheval (18361924), der Briefträger in dem kleinen Ort Hauterives im französischen Rhonetal zwischen Valence und Vienne, der eines Tages einen besonderen Stein findet und daraufhin beginnt, immer mehr Steine zu sammeln und aus ihnen in vielen Jahren seinen ganz privaten „palais imaginaire“ zu bauen. Ein gaudiartiger Traum aus Stein, der weniger gebaut als organisch gewachsen, aus sich selbst heraus entstanden scheint und im Grunde auf einem ständigen Werden beharrt. Natürlich unterscheiden sich diese Beispiele in ihren Ergebnissen maßgeblich von Thomas Arbeiten, und doch sind sie von einem ähnlichen Geist beseelt, dieser Liebe zum Verrätselten, der Verachtung des rechten Winkels und einer architektonischen Auffassung, die das Wuchernde, ein proliferierendes, potenziell endloses Wachstum gegen das klar Definierte und statisch Verlässliche setzt.
Und so wie Cheval von Stein zu Stein seinen imaginären Palast wachsen sah, arbeitet sich auch Thoma sozusagen von Hölzchen zum Stöckchen seinen skulpturalen Finalen entgegen.
Bezogen auf Piranesi und Cheval ließe sich, freilich etwas aphoristisch, behaupten, der eine (Cheval) finde, der andere (Piranesi) erfinde. Und Thoma? Macht beides: Findet all das, was er benötigt, und erfindet daraus im Wortsinne unglaubliche und doch ganz reale Gebilde, die immer auf der Grenze zwischen Selbstbehauptung und Selbstwiderlegung balancieren. Die Münchner Arbeit „Einbruch“ macht da keine Ausnahme und spielt schon mit ihrem Titel auf die ansatzweise kriminelle Energie an, mit der sie in die geordnete Architektur des e.on-Gebäudes hineingebrochen ist. Anders als bei den übrigen Arbeiten, die eigentlich eher für sich stehen, in ihre eigene Logik verstrickt sind, ist „Einbruch“ ganz gezielt für ihren Ausstellungsort entstanden.
Und glücklicherweise gab es in einer Berliner Bildhauerwerkstatt auch eine Empore und ein Geländer in genau der gleichen Höhe wie in München, was es Thoma erlaubte, die Arbeit in Berlin vorzufertigen, so dass er sie sie in München mit minimalen Veränderungen und Modifizierungen nurmehr re-installieren musste.
Zwei kleinere Skulpturen im Innenhof wirken dabei wie eine Aus- beziehungsweise Einleitung zu der zentralen Arbeit, die trotz ihrer Gr öße und Ausdehnung in dem extrem hohen Raum fast fragil und auf eine verblüffende Art elegant erscheint. Die Hauptskulptur wurde aus einer relativ kompakten Form entwickelt, wobei als Ausgangspunkt, der in verschiedenen Skizzen und Detailzeichnungen vorgedacht ist, die Idee eines Haufens diente, aus dem sich die Skulptur als dauerhafter Antagonismus aus fallenden und aufsteigenden Elementen entwickelt. Von besonderer Wichtigkeit sind dabei die unterschiedlichen Perspektiven, die sich bei der Betrachtung der Arbeit von den verschiedenen Seiten ergeben. Alles ist hier ein stetes Zugleich von Innen und Außen, das eine prozessuale Beweglichkeit enthält, die eine ebenso große Beweglichkeit vom Betrachter verlangt. Wie alle Arbeiten Thomas ist auch diese ein Körper, der selbst zwischen Abbau, Aufbau, Umbau, Labyrinth und nachvollziehbarer Tektonik oszilliert.
Auffällig ist zudem, wie sehr diese Skulptur Komplexitätsmaximierung betreibt. Ganz im Gegensatz zu konstruktivistischer oder minimalistischer Purifizierungssehnsucht arbeitet hier alles mit Überlagerungen, Verschlingungen, Verdoppelungen und Undurchsichtigkeiten, die schlussendlich eine Skulptur ergeben, die so komplex ist wie die Welt, in der sie entstanden ist. Dazu passt ein skulpturales Denken, das nicht auf die Distanz zwischen dem Körper des Künstlers und dem Körper der Skulptur setzt, sondern auf deren Engführung, auf deren tatsächliche Verbindung. Insofern ist es bei der Entwicklung der Arbeiten tatsächlich essenziell wichtig und übrigens an den Zeichnungen schön nachzuvollziehen , sich vorzustellen, man stecke selbst in der Skulptur, werde selbst Teil von ihr. Matthäus Thoma klettert deshalb in den Arbeiten nicht nur herum, weil er das muss, um sie zusammenzufügen, sondern auch um ein Gefühl zu bekommen, was noch nicht passt beziehungsweise wie sich die Arbeit weiterentwickeln kann. Diese Arbeitsweise erklärt zum einen die enorme körperliche Wirkung, die diese Arbeiten ausstrahlen, macht aber auch deutlich, dass sie in gewissem Sinne gewaltige Körperextensionen und Manifestationen komplexer gedanklicher Bewegungen sind.
Skulptur sei das, wogegen man stößt, wenn man zurücktritt, um Malerei zu betrachten, lautet ein berühmtes (möglicherweise Ad Reinhardt zugeschriebenes) Statement, welches die scheinbare Überlegenheit des Mediums Malerei gegenüber der Skulptur ironisch kommentierte. Bei Thoma kann einem das nicht passieren. Skulptur ist hier eine den Betrachter physisch konfrontierende Totalität, der man nicht mehr ausweichen kann: Das aus Latten und Brettern gezimmerte Modell einer Welt, der ihre Mitte abhanden gekommen ist, das sich aber in seiner beweglichen, fragilen, kippenden Gefährdetheit alles andere als unwohl fühlt. Ein gänzlich unideologischer und gleichzeitig präziser Kommentar zum Stand der Dinge. Und ein handgreiflicher Beweis dafür, dass es eben diesen „Stand“ nicht gibt, sondern nur eine fortwährende kippende, ein- und aufbrechende Bewegung, die uns klarmacht, dass nur das, was im Wortsinne nicht stehen bleibt, eine Chance hat zu überdauern.
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